Nach dem großen Erfolg von Sport-Dokumentationen wie „Drive to Survive“ über die Formel1 und „Break Point“ über den Tenniszirkus ist es keine große Überraschung, dass dieselbe Produktionsfirma sich mit „Full Swing“ einen neuen Big Player aus der Welt des Sports gesucht hat.
Dass dabei die größte Golftour des Planeten und einige ihrer Protagonisten im Mittelpunkt stehen, dürfte nicht nur Golfafficionados erfreuen, sondern auch solche, die es noch werden wollen. Denn zumindest die ersten der insgesamt acht Episoden der ersten Staffel sind ausgesprochen konsumentenfreundlich gestaltet. Wer mit den Regeln des Spiels und den Abläufen auf der PGA-Tour noch nicht ganz vertraut ist, wird auf kleinen Exkursen von renommierten Golf-Journalisten immer mal wieder an die Hand genommen und häppchenweise mit der Thematik vertraut gemacht.
Und dass die Produzenten mit der Saison 2022 das wohl ereignisreichste Golfjahr der letzten Dekaden begleitet haben, wertet die Reihe zusätzlich auf. Nicht nur, dass die PGA-Tour überhaupt den Blick auf ihr Innerstes freigibt (sogar das gut behütete von Augusta National), macht das Ganze sehenswert. Das Damoklesschwert LIV-Tour, das über dem vergangenen Jahr nicht nur schwebte, sondern auch zuschlug, gab den Netflix-Teams zudem die Gelegenheit, im Bild festzuhalten, wie zerrissen dieses Innere bisweilen ist.
Die LIV-Tour als dramaturgisches Geschenk, das die Produktionsfirma Box to Box Films offensichtlich erst überrumpelt und dann motiviert hat. Einen besseren Antagonisten konnte man sich schließlich nicht ausdenken: Da kommt ein neureiches Konstrukt mit jeder Menge Kohle und bringt die armen Seelen vom Traditionssportverein mehr als nur ins Grübeln. Fertig ist der Spannungsbogen, den Rory McIlroy in der letzten Folge 8 dann noch mit ein paar Pfeilen versieht. Und fast glaubt man zu spüren, dass die PGA-Offiziellen heilfroh waren über die Anwesenheit der Netflix-Leute: Wenn sie schon mal da sind, dann machen wir jetzt eben noch mehr Werbung in eigener Sache.
Das funktioniert, denn ansonsten bleibt „Full Swing“ dem bewährten Erfolgskonzept der Sportdokus treu. Man nehme, wie in der mit „Frenemies“ passend betitelten Episode 1 Justin Thomas und Jordan Spieth, die ganz großen Namen und lasse sie die kleinen Dinge berichten. Jede Folge widmet sich anderen im wahrsten Wortsinn Typen zu einem bestimmten, meist prägenden Zeitpunkt ihrer Saison. Es ist natürlich der vermeintlich intensive Blick hinter die Kulissen, der die Zuschauer lockt. Die langjährige Freundschaft zwischen Thomas und Spieth ist beispielsweise kein großes Geheimnis.
Full Swing: 8 Episoden mit tiefem Einblick
Wie sie sich jedoch im Wettkampf-Alltag gestaltet, ist durchaus eine Erzählung wert. Dabei schwankt die erste Episode zwischen den Kategorien „Typen wie du und ich“, wenn beispielsweise Thomas beim Kauf eines Allergiemittels im Supermarkt am Self-Checkout beinahe verzweifelt, und „Golfklischees“, wenn die beiden Buddies im Privatjet hoch über den Wolken raten, welche Karte aus einem Kartenstapel gezogen wird – bei einem Einsatz von 1.000 Dollar pro Versuch.
Überhaupt, der Privatjet. Als eine Art Leitmotiv fliegt er durch jede Folge – und das durchaus als dramaturgischer Kniff. Versinnbildlicht er eben nicht nur, dass jede Menge Geld im Spiel ist, sondern dass Golfprofis ein unstetes Leben führen, dauernd unterwegs zwischen Driving Range, den eigenen oft großzügigen vier Wänden, dem nächsten Turnier und Sponsoringterminen.
Besonders stark wird „Full Swing“ dann, wenn die Tür zu den Protagonisten nicht nur ein Stück weit aufgeht, sondern sie den Zuschauer sogar ins Haus lassen. Denn bei aller „Behind-the-sences“-Mentalität ist der ein oder andere Weltstar (Yes, Dustin Johnson, it´s you, for example) in seinen Episodenauftritten aus gewissen Gründen eher höflich distanziert, während die Episoden über Joel Dahmen und Tony Finau echte Hingucker sind. Mit Wendungen, die das Dokumentarformat so stark machen – die kann sich nämlich kein Drehbuchautor ausdenken, sie sind das wahre Leben und, ohne zu viel spoilern zu wollen, ein Up-and-Down, das Größer ist als der Golfsport.
Fazit: „Full Swing“ hat das Potential, die Zuschauer richtig abzuholen. Ja, das Sportdokumentarsegment wird momentan von den Streamingdiensten arg strapaziert, aber Netflix ist mit der Reihe ein Schlag mitten ins Grün gelungen. Fein fotografiert, geschickt aufgebaut und mit der richtigen Mischung aus großem Sport und den noch größeren, kleinen Momenten – wie der Schluss von Episode 6, der hier nur wärmstens empfohlen, aber nicht gespoilert werden soll. Ian Poulter, polarisierend wie immer auch bei seinem „Full Swing“-Auftritt, stellt in der Doku an die Produzenten gerichtet fest: „Ihr habt euch ein verdammt gutes Jahr ausgesucht, um die PGA-Tour zu begleiten.“ So ist es.
Episodenguide „Full Swing“
- „Frenemies“ – Justin Thomas und Jordan Spieth sind Freunde seit Kindertagen. Im Turnier aber ist sich jeder selbst der Nächste.
- „Win or Go Home“ – Brooks Koepka dominiert drei Jahre lang die Tour, dann fällt er in ein tiefes Loch. Kann er sich beim Masters daraus befreien?
- „Money or Legacy“ – Die LIV-Tour klopft nicht an die Tür zur Golfwelt, sie rennt sie ein. Mit Folgen für das Konstrukt und für einzelne Profis wie beispielsweise den altgedienten Ian Poulter.
- „Imposter Syndrome“ – Joel Dahmen liebt Golf genauso wie die ein oder andere gute Party. „Wenn die Golfwelt jemanden braucht, der Platz 70 belegt, warum sollte nicht ich das sein?“, sagt der Amerikaner. Doch was steckt hinter der spaßigen Fassade und der Überzeugung, nicht der Beste sein zu wollen?
- „American Dreams“ – Dustin Johnson und Matthew Fitzpatrick könnten unterschiedlicher nicht sein. Das perfekte Match-up, um die Spannung zwischen LIV-Tour und PGA-Tour mit Blick auf die US Open eskalieren zu lassen.
- „Don’t Get Bitter, Get Better” – Für Collin Morikawa ist Golf alles. Für Tony Finau gibt es Wichtigeres. Denn nicht nur das Spiel kann man auf ganz unterschiedliche Art und Weise lieben.
- „Golf is Hard“ – Wenn du ein Rookie bist, willst du dich bei den Großen beweisen. Das gilt auch für Sahith Theegala und Mito Pereira, die beide kurz davor sind, genau das zu schaffen.
- „Everything Has Led to This” – die ganz Großen zum Schluss. Rory McIlroy kämpft nicht nur um seinen persönlichen Erfolg bei The Open in St Andrews und der Tour Championship, sondern auch um die Zukunft seiner Gilde.